23. ilb 06. – 16.09.2023

Viktorija Tokarjewa

Viktorija Tokarjewa wurde 1937 in Leningrad geboren. Mit 18 diplomierte sie an der Leningrader Musikhochschule als Pianistin. Nach ihrer Hochzeit mit einem Physiker zog sie nach Moskau um, wo sie drei Jahre als Klavierlehrerin arbeitete. Sie begann früh zu schreiben. Daher immatrikulierte sie sich, um einem Leben als Klavierlehrerin zu entkommen, schließlich an der Moskauer Filmhochschule im Drehbuchfach, die sie 1968 mit einem Diplom abschloss. Kanpp zwanzig ihrer Drehbücher wurden bislang verfilmt. Viktoria Tokarjewa erhielt für ihre Drehbücher zweimal den Ersten Preis beim Internationalen Moskauer Filmfestival sowie 1981 den Ersten Preis beim Internationalen Dokumentarfilmfestival.

1964 – kurz vor dem Rücktritt Chruschtschows und damit dem Ende der Tauwetterperiode – veröffentlichte sie in der Zeitschrift „Molodaja gvardija“ ihre erste Erzählung „Den‘ bez vranja“ (Ü: Ein Tag ohne Lüge), mit der ihr sogleich der Durchbruch gelang. Von der sowjetischen Zensur blieb sie weitgehend verschont, obwohl ihre Erzählungen, die meist um das Thema Liebe kreisen, auf dem Anspruch nach Privatem, Intimem beharren. Schon vor der Perestrojka wurden zahlreiche ihrer Erzählungen publiziert; sie ist in Russland außerordentlich populär und findet auch in Deutschland großen Anklang: Die Mehrzahl ihrer Erzählbände wurden bereits übersetzt, ebenso wie ihr bislang erster Roman „Ptica Scastija“ (dt. „Glücksvogel“, 2005).

Den Schauplatz von Tokarjewas Erzählungen bildet die russische Großstadt. Die Menschen dort, die ihr Leben im Alltäglichen fristen, träumen gelegentlich den Traum von wahrer Liebe, großen Gefühlen und einem sinnerfüllten Leben, haben Angst vor der Einsamkeit oder sie gieren nach Leben. Da gibt es das Mädchen, das den Klavierlehrer liebt, aber nie ein Wort zu sagen wagt („Raraka“), den Starpianisten in der Midlife-Crisis („Ne sotvori“, dt. „Die Diva“) und die männerverschlingende neue Russin, die sich dann doch einmal verliebt („Pervaja popytka“, dt. „Mara“). Meist werden die Figuren am Ende ihrer Illusionen beraubt, gewinnen aber ein kleines Stück Weisheit und manchmal auch so etwas wie Zufriedenheit.

Tokarjewas Erzählungen ist die filmische Ausbildung der Autorin anzumerken: In schlichter, schnörkelloser Sprache werden Bilder aneinandergereiht und mit wenigen Strichen die Szenen skizziert. Die Figuren gewinnen ihren Charakter durch ihre Gesten, durch kleine, alltägliche Handlungen. Wie ihr Vorbild Tschechow beobachtet sie zugleich mit großer Sensibilität und kühler Distanz. Sie schreibt eine „russische Soziologie en miniature“, meist melancholisch, aber stets mit lakonischem Humor.

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