Tomas Venclova
- Litauen, USA
- Zu Gast beim ilb: 2012, 2017
Tomas Venclova wurde 1937 in der Hafenstadt Klaipėda (einst Memel) in Litauen geboren. Er studierte Lituanistik sowie russische Literatur in Vilnius. Während längerer Aufenthalte in Moskau (1961–1965) und Leningrad (1969–1972) verkehrte er mit anderen Literaten und Dissidenten und engagierte sich auch in der Bürgerrechtsbewegung. Er lernte u. a. die Dichterin Anna Achmatowa, Alexander Ginzburg und Joseph Brodsky kennen, mit welchem ihn eine tiefe Freundschaft verband. Zwischen 1966 und 1971 nahm er ein zweites Studium der Semiotik und russischen Literatur an der estnischen Universität Tartu auf. Nach seiner Rückkehr nach Vilnius lehrte Venclova Literaturgeschichte und Semiotik an der dortigen Universität. 1976 war er Mitbegründer der litauischen Helsinki-Gruppe, die sich für die Verteidigung der Menschenrechte einsetzte. Im darauffolgenden Jahr gelang es ihm mit der Hilfe von Brodsky und der Vermittlung von Czesław Miłosz, in die USA zu emigrieren und als Gastdozent an die University of California in Berkeley eingeladen zu werden. Infolgedessen wurde er ausgebürgert und erhielt politisches Asyl in den USA. 1980 bis 2012 unterrichtete er slawische Literatur in Yale, wo er 1985 promovierte und 1993 zum Professor ernannt wurde.
Da seine lyrischen wie essayistischen Texte in seiner Heimat von der Zensur unterdrückt wurden, entstand Venclovas Werk überwiegend erst im Exil. Ins Litauische übersetzte er zudem Achmatowa, Brodsky und Miłosz sowie Boris Pasternak, Ossip Mandelstam, aber auch Baudelaire, Michaux, Pound und Eliot. Eines seiner ersten Gedichte, »Hidalgo«, veröffentlichte er im Samisdat, u. a. als Reaktion auf die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands von 1956; darin heißt es: »Niemals werden wir durchschaun, warum / uns bestimmt sind Plätze und Tribünen, / Kugel, Galgenstrick und Panzerturm.« Venclova gilt zweifelsohne als einer der bedeutendsten osteuropäischen Dichter. Brodsky sagte über seine Lyrik: »Venclovas Lied beginnt dort, wo die Stimme sonst gewöhnlich abbricht, sich verausgabt hat und wo alle seelischen Kräfte erschöpft sind.« Venclova arbeitet in seiner äußerst formalen Lyrik, gerade hinsichtlich Rhythmik und Klang, die besonderen Qualitäten des Litauischen heraus. Inhaltlich thematisiert er u. a. Zeitgeschichte, Heimatverlust und nicht zuletzt den sprachlichen Ausdruck selbst. Dank der Übersetzungen u. a. von Durs Grünbein liegt ein Teil von Venclovas Werk auch in deutscher Sprache vor: die beiden Gedichtbände »Vor der Tür das Ende der Welt« (2002) und »Gespräche im Winter« (2007) sowie sein Stadtporträt »Vilnius – Eine Stadt in Europa« (2006).
Venclova trat im Sommersemester 2010 die Samuel-Fischer-Gastprofessur für Literatur an der Freien Universität Berlin an. Er lebt in New Haven (Connecticut) und Vilnius. Venclova ist derzeit Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
© internationales literaturfestival berlin
Aleksander Wat
Life and Art of an Iconoclast
Yale University Press
New Haven, 1996
Forms of Hope
Essays
The Sheep Meadow Press
Rhinebeck, 1999
Vor der Tür das Ende der Welt
Gedichte
Hanser
München, 2002
[Ü: Rolf Fieguth]
Vilnius. Eine Stadt in Europa
Suhrkamp
Frankfurt a. M., 2006
[Ü: Claudia Sinnig]
Gespräche im Winter
Gedichte
Suhrkamp
Frankfurt a. M., 2007
[Ü: Claudia Sinnig u. Durs Grünbein]
Der magnetische Norden
Gespräche mit Ellen Hinsey
Suhrkamp
Berlin, 2017
[Ü: Claudia Sinnig]