Swetlana Alexijewitsch
Swetlana Alexijewitsch wurde 1948 im ukrainischen Iwano-Frankiwsk als Tochter eines Weißrussen und einer Ukrainerin geboren. Sie studierte Journalismus in Minsk und arbeitete als Lehrerin und später als Reporterin für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Über die Interviews, die sie für ihre Arbeit führte, fand sie zu einer eigenen literarischen Gattung, dem halbdokumentarischen »Roman in Stimmen«, den sie kontinuierlich ästhetisch weiterentwickelte.
Bereits in ihrem ersten Prosawerk, »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht« (1985; dt. 1987/2004), in dem sie das Schicksal sowjetischer Soldatinnen in und nach dem Zweiten Weltkrieg thematisiert, verdichtet sie Interviews zu einem Panorama, das dem Vergessen entgegenwirkt. Dafür wurde sie angeklagt, die »Ehre des Großen Vaterländischen Krieges« zu beschmutzen, und verlor daraufhin ihre Anstellung bei einer Zeitung. Auch später geriet die Autorin immer wieder in Konflikt mit der Obrigkeit. So stand sie wegen ihres Werks »Zinkjungen« (1989; dt. 1992), einer Collage aus Gesprächen mit Soldaten, deren Müttern, Frauen und Witwen über den sowjetischen Feldzug nach Afghanistan, mehrfach vor Gericht. Nach der Machtergreifung 1994 durch Präsident Lukaschenko wurden ihre Bücher in Weißrussland aus den Lehrplänen der Schulen gestrichen und konnten dort nicht mehr erscheinen. Seit 2000 lebt sie mit Unterbrechungen im westlichen Ausland. Ihr bekanntestes und bislang letztes Prosawerk »Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft« (dt. 1997) zeichnet in aus Gesprächen entstandenen literarischen Monologen psychologische Porträts der von der Reaktorkatastrophe direkt betroffenen Menschen. Dabei entsteht ein »ungeheuerliches Requiem der Klage und der Anklage, mit dem sich die Autorin ohne Zweifel neben […] Tschechows ›Die Insel Sachalin‹ und Solschenizyns ›Der Archipel Gulag‹ gestellt hat« (»Frankfurter Rundschau«). In ihrer Form der Protokoll-Literatur geht sie aus von umfangreichen Interviews mit »kleinen Leuten« und Opfern der Geschichte, die sie zu monologischen Erzählungen verdichtet. »Ich sehe die Welt gleichsam in Stimmen. […] Aus Tausenden Stimmen erschaffe ich nicht Realität (die Realität ist unbegreiflich), sondern ein Bild meiner Zeit, meines Landes. […] Alles schließt sich zu einer kleinen Enzyklopädie zusammen, der Enzyklopädie meiner Generation, der Menschen, die ich getroffen habe«, beschreibt die Autorin ihren Arbeitsstil. Swetlana Alexijewitschs Werke wurden in 35 Sprachen übersetzt und dienten als Vorlage für Hörspiele, Theaterstücke und Drehbücher zu Dokumentarfilmen.
Für ihre engagierte Prosa erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung, den Kurt-Tucholsky-Preis des schwedischen P.E.N., den National Book Critics Circle Award und den polnischen Ryszard-Kapuściński-Preis. Derzeit bereitet sie das Buch »Second-Hand-Zeit. Das Ende des roten Menschen« vor. Die Autorin ist 2011 Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD.
© internationales literaturfestival berlin
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht
Henschel Verlag
Berlin, 1987
[Ü: Johann Warkentin]
Berlin Verlag
Berlin, 2004
[Ü: Ganna-Maria Braungardt]
Die letzten Zeugen
Verlag Neues Leben
Berlin, 1989
[Ü: Gisela Frankenberg]
Aufbau Verlag
Berlin, 2005
[Ü: Ganna-Maria Braungardt]
Zinkjungen
Afghanistan und die Folgen
S. Fischer Verlag
Frankfurt/Main, 1992
[Ü: Ingeborg Kolinko]
Im Banne des Todes
S. Fischer Verlag
Frankfurt/Main, 1994
[Ü: Ingeborg Kolinko]
Tschernobyl
Eine Chronik der Zukunft
Berlin Verlag
Berlin, 1997 und 2006
[Ü: Ingeborg Kolinko]