Shumona Sinha
- Frankreich, Indien
- Zu Gast beim ilb: 2016, 2017
Shumona Sinha wurde 1973 in Kalkutta geboren. Aufgewachsen in einer literaturbegeisterten Akademikerfamilie, begann sie bereits als Jugendliche zu schreiben und wurde 1990 als beste junge Dichterin Bengalens ausgezeichnet. 2001 zog sie nach Paris, wo sie an der Sorbonne Literaturwissenschaft studierte und als Lehrerin für Englisch an weiterführenden Schulen arbeitete. Ab 2009 war sie als Dolmetscherin im Amt für Flüchtlinge und Staatenlose (OFPRA) angestellt, wurde dort allerdings nach Erscheinen ihres preisgekrönten Romans »Assommons les pauvres!« (2011; dt. »Erschlagt die Armen!«, 2015) entlassen.
Der autobiografische Zugang Sinhas und ihre zornige und zugleich poetische Sprache charakterisieren bereits ihren Debütroman »Fenêtre sur l’abîme« (2008; Ü: Fenster über dem Abgrund) über eine in Paris studierende Bengalin, die durch die Heirat mit einem berühmten Professor gesellschaftlich aufsteigt, sich damit aber zugleich der Monotonie einer bürgerlichen Ehe aussetzt. Mit ihrem zweiten Roman, dessen Titel »Erschlagt die Armen!« Sinha dem gleichnamigen Prosagedicht Charles Baudelaires entlehnt hat, sorgte die Autorin international für Aufsehen. Die Dolmetscherin einer französischen Asylbehörde hat einen Migranten mit einer Weinflasche geschlagen und muss sich nun auf der Polizeiwache rechtfertigen. Voller Wut entlarvt die einst selbst als Einwanderin ins Land gekommene Frau das unmenschliche Asylsystem. Während die hiesigen Beamten zu systematischem Misstrauen erzogen würden, sähen sich die Migranten dazu genötigt, immer drastischere Geschichten von Gewalt und Verfolgung zu erfinden, um das streng reglementierte Aufenthaltsrecht zu bekommen. »Ein großartiger Roman, bilderreich, aggressiv, witzig und hochintelligent, ein Antidot zu allen Predigttexten zum Thema Migration, ein hochpolitisches Plädoyer für einen anderen Umgang mit dem Thema Asyl«, urteilte die »Süddeutsche Zeitung«. In »Calcutta« (2014; dt. »Kalkutta«, 2016) kehrt die Protagonistin Trisha zurück in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Dort rekonstruiert sie anhand des Werdegangs mehrerer Generationen ihrer Familie auch die bewegte Geschichte Westbengalens seit der Kolonialzeit. In ihrem jüngsten Roman »Apatride« (2017; dt. »Staatenlos«, 2017) erzählt Sinha von zwei bengalischen Frauen: Während die eine nach Paris, in die Stadt ihrer Träume zieht, lässt sich die andere, die in einer armen Bauernfamilie aufgewachsen ist, von einem Bauernaufstand mitreißen. Beide erfasst mit der Zeit eine traurige Wut angesichts der zunehmenden Gewalt und Unfreiheit.
Shumona Sinha, die neben ihren Romanen auch mehrere Gedichtbände auf Bengalisch verfasst hat, erhielt für »Erschlagt die Armen!« den Prix Eugène Dabit du roman populiste und den Prix Valery-Larbaud. Der Roman stand 2014 auf der Shortlist des Prix Renaudot und des Prix Médicis und wurde 2016 mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt, Berlin, ausgezeichnet. Im selben Jahr war Sinha Writer in Residence des Literaturhauses Zürich. Die Autorin lebt in Paris.
Fenêtre sur l’abîme
Éditions de la Différence
Paris, 2008
Erschlagt die Armen!
Edition Nautilus
Hamburg, 2015
[Ü: Lena Müller]
Kalkutta
Edition Nautilus
Hamburg, 2016
[Ü: Lena Müller]
Staatenlos
Edition Nautilus
Hamburg, 2017
[Ü: Lena Müller]