Nicolai Lilin
- Italien, Russland
- Zu Gast beim ilb: 2010
Nicolai Lilin wurde 1980 in Bender in Transnistrien (UdSSR, heute Region Moldawien) geboren. Nachdem er während seines Kriegsdienstes zwei Jahre im Tschetschenienkrieg gekämpft hatte, kam er 2003 ins piemontesische Turin, wo er heute als Autor, Journalist und Tattoo-Künstler (traditionelle sibirische Kriminellentattoos) lebt.
2009 erschien in Italien sein erster, autobiografischer Roman »Educazione siberiana« (dt. »Sibirische Erziehung«, 2010) über seine Kindheit und Jugend bei den sibirischen Urki. Roberto Saviano, Autor des Enthüllungsromans »Gomorrha«, schrieb über das Debüt: »Wer dieses Buch lesen will, muss die Kategorien von Gut und Böse, wie wir sie kennen, vergessen … Einfach nichts tun: nur lesen.« Die Urki, wie die »ehrbaren Verbrecher« genannt werden, waren ein mafiaähnlicher Clan, der unter Stalin gegen Ende der 1930er Jahre aus Sibirien in das transnistrische Grenzgebiet zwangsumgesiedelt wurde. Ihr Leben hat eigene Gesetze und Bräuche: Waffen werden abends in der Ikonenecke niedergelegt, Tätowierungen sind Erkennungszeichen, Reichtum ist verpönt, Kontakt mit Polizisten gilt als Ehrbesudelung, Alte und Frauen genießen hohes Ansehen, Behinderte werden als Heilige verehrt und geschützt, Gewalt ist erlaubt, wenn man einen guten Grund hat. »Manche genießen das Leben, manche leiden darunter, für uns ist es Kampf.« Die »sibirische Erziehung«, die der Protagonist in der Unterstadt seiner Geburtsstadt Bender erfährt, führt zu ständigen Konflikten mit der Staatsgewalt und anderen kriminellen Gruppierungen. Als Sechsjähriger bekommt er sein erstes eigenes Messer, wird durch das Töten von Tieren an Gewalt gewöhnt, und mit 13 Jahren kommt er schließlich wegen schwerer Körperverletzung zum ersten Mal ins Jugendgefängnis, wo er eine Hölle von Gewalt, Willkür und Menschenverachtung erlebt. Nicolai Lilins Erzählstil ist schlicht und direkt, man erlebt die Gegebenheiten dieser teilweise grotesken und völlig fremdartigen Welt in konkreten und realistischen Konturen aus nächster Nähe. Die distanzlose Authentizität ergibt sich auch aus dem Fehlen einer stringenten Komposition – oft schweift der Erzähler ab, ergeht sich in Redundanzen oder hält sich an Nebenschauplätzen auf. Lilin entschlüsselt zudem die sprachlichen Codes der Urki, die ihre Kommunikation durch sprechende Beinamen, ein geradezu alttestamentarisches Vokabular sowie andere eigene Begrifflichkeiten schützen. Die Jugend der Urki endet in Lilins »Sibirischer Erziehung« mit einem Einberufungsbefehl und dem Einsatz als Soldat im russischen Krieg gegen Tschetschenien. Seine Erlebnisse in diesem Krieg wird Lilin in seinem nächsten Roman thematisieren und damit seinen Lebensbericht fortsetzen.
Bis jetzt in 14 Sprachen übersetzt, wird die »Sibirische Erziehung« vom italienischen Regisseur Gabriele Salvatores verfilmt.
Sibirische Erziehung
suhrkamp nova
Berlin, 2010
[Ü: Peter Klöss]