23. ilb 06. – 16.09.2023

Nélida Piñon

Nélida Piñon wurde 1936 als Kind spanischer Einwanderer in Rio de Janeiro geboren. Hier studierte sie Journalismus und arbeitete danach lange Zeit für die Zeitschriften »O Globo« und »Cadernos Brasileiros«.Die bis heute zu den wichtigsten brasilianischen Schriftstellerinnen gehörende Autorin wurde bereits Anfang der sechziger Jahre mit ihren existentialistisch geprägten Romanen und Erzählungen bekannt. Ihr erster Roman, »Guia-Mapa de Gabriel Arcanjo« von 1961, ist ein Dialog zwischen der Protagonistin und ihrem Schutzengel über die christliche Lehre und deren verschiedene Auslegungen.Unter dem Druck der Diktatur entstand Anfang der siebziger Jahre in Brasilien eine neue Literatur, deren scheinbar subjektivistische Tendenz Resultat der strengen Zensur war. Nélida Piñon hat mit ihren erotischen Werken »A casa de paixão« von 1972 und »A força do destino« von 1977 das Gesicht dieser Literatur entscheidend mitgeprägt. Erste Auszeichnungen machten Piñon zu dieser Zeit auch international bekannt. 1970 erhielt sie den »Walmap-Preis« für ihren historischen Roman »Fundador«, und 1973 verlieh ihr die Vereinigung der Kunstkritiker in Sao Paulo den »Mario-de-Andrade-Preis« für »A casa de paixão«.

Ihren bislang größten Erfolg feierte die Autorin mit dem 1984 erschienenen Roman »A republica dos sonhos«, der mittlerweile auch auf spanisch, französisch und englisch vorliegt. Auf fast achthundert Seiten erzählt Piñon hier die Geschichte ihrer eigenen, aus Galicien stammenden Familie. Über vier Generationen verfolgt sie dabei den Weg der spanischen Einwanderer, die in die Traumrepublik Brasilien aufgebrochen waren. Erzählt wird aus der Perspektive des Großvaters und seiner Enkelin, deren Konversation zum Zeugnis eines vom Vergessen bedrohten kollektiven Gedächtnisses wird. Um dieses ist Piñon besonderes bemüht: »Die Länder, die es versäumen, ihr Gedächtnis zu bewahren, ihre menschlichen Geschichten vergessen und Tag für Tag ihre Bewohner neu schaffen, werden geistig verkümmern und verarmen«. Für ihren Beitrag zum Reichtum der brasilianischen Literatur wurde die Autorin 1985 von der »Vereinigung der Kunstkritiker« und dem brasilianischen P.E.N.-Club ausgezeichnet.

Piñons bislang letzter Roman »A doce cançao de Caetana« erschien 1987 und wurde im gleichen Jahr mit dem Preis der »Brasilianischen Schriftstellervereinigung« prämiert. Im Juni des Jahres 1970 angesiedelt, zeichnet der streckenweise sehr humoristische Roman nicht nur ein liebevoll-boshaftes Portrait einer brasilianischen Provinzgemeinde, sondern versteht sich auch als Auseinandersetzung mit der Diktatur der siebziger Jahre. Neben zahlreichen Lehraufträgen an verschiedenen US-amerikanischen Universitäten übernahm Nélida Piñon in den Jahren 1996 und 1997 die Präsidentschaft der Brasilianischen Akademie der Künste, der sie auch heute noch angehört.

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