Natalja Kljutscharjowa
- Russland
- Zu Gast beim ilb: 2010
Natalja Kljutscharjowa wurde 1981 in Perm (Russland) geboren, studierte an der Pädagogischen Hochschule von Jaroslawl und arbeitete danach zunächst als TV-Nachrichtenredakteurin. Heute ist sie Redakteurin von »Pervoe sentjabrja«, einer Moskauer Zeitschrift, die sich mit Fragen der Erziehung und Bildung befasst. Seit 2002 veröffentlicht sie Lyrik und gelangte noch im selben Jahr auf die Shortlist des »Debut«-Preises in der Kategorie Lyrik. 2006 erschienen ihr Gedichtband »Belye pionery« (Ü: Weiße Pioniere) sowie ihr erster Roman »Rossija: obščij vagon« (Ü: Russland: Waggon vierter Klasse), der derzeit in sechs Sprachen übersetzt wird und 2010 auf Deutsch unter dem Titel »Endstation Rußland« erschien. Es ist eine schillernde Enzyklopädie des Lebens im heutigen Russland. Nikita, ein Petersburger Student Anfang zwanzig, der zu plötzlichen Ohnmachtsanfällen neigt, reist mit dem Zug durch seine Heimat auf der Suche nach glücklichen Menschen. Im heutigen Russland der Extreme stößt er dabei auf skurrile Charaktere: einen Transvestiten und orthodoxen Priester, einen ergrauten Komsomolzen, einen Geheimdienstler, der den neomarxistischen Philosophen Slavoj Žižek übersetzt. Nicht alle schaffen es zu überleben. Eine Mutter erhängt sich, weil sie ihren hungrigen Kindern nicht mehr in die Augen sehen kann; ein Pornomodel, das Gedichte über tschetschenische Freiheitskämpfer schreibt, schluckt eine Überdosis Tabletten; ein Arbeiter, der nicht begreifen kann, dass die Staatsmacht ihn im Stich lässt, nachdem der Bergbau in der Region aufgegeben wurde, bleibt als Einziger in seinem Dorf zurück, um dort zu sterben. Doch es regt sich auch Widerstand: Nachdem ihnen die Sozialleistungen gekürzt wurden, bricht eine Gruppe empörter Rentner zu einem Protestmarsch nach Moskau auf; Nikita schließt sich dem Rentneraufstand an und träumt von Revolution und Versöhnung. Kljutscharjowas Debütroman entwirft nicht nur ein Panorama der heutigen russischen Gesellschaft, sondern reflektiert darüber hinaus über das Thema Revolution in der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Kljutscharjowas Sprache ist lyrisch und unpathetisch, gleichwohl porträtiert sie in einfachen Sätzen ergreifend ihre ungewöhnlichen Helden. »Ich schreibe für diejenigen, die den Menschen in sich noch nicht verloren haben, die Mitleid mit fremdem Leid haben und sich am Glück der anderen freuen können. Ich schreibe für jene, die auch über die einfachsten Dinge staunen können und über die schwierigsten nachzudenken wagen.«
2008 erhielt Natalja Kljutscharjowa für ihre Erzählung »Odin den’ v raju« (Ü: Ein Tag im Paradies) den Juri-Kasakow-Preis. Sie lebt in Abramzewo bei Moskau.
Belye pionery
ARGO-RISK
Moskau, 2006
Odin den’ v raju
Nowyj mir
Moskau, 2007
SOS
Limbus Press
St. Petersburg, 2009
Endstation Rußland
Suhrkamp
Berlin, 2010
[Ü: Ganna-Maria Braungardt]