Linn Ullmann
- Norwegen
- Zu Gast beim ilb: 2005
Linn Ullmann wurde 1966 in Oslo geboren. 1988 graduierte sie an der New York University und begann im gleichen Jahr zu promovieren. 1992 kehrte sie endgültig nach Norwegen zurück. Nachdem sie einige Jahre als Radioreporterin und Mitherausgeberin des Literaturmagazins »VAGANT« tätig gewesen war, arbeitete sie als Journalistin und Literaturkritikerin für die Tageszeitung »Dagbladet«, in der sie später eine Kolumne hatte. Seit 2000 veröffentlicht sie in der Tageszeitung »Aftenposten« regelmäßig eine politische und kulturelle Kolumne. Ullmanns erste Buchveröffentlichung war eine von ihr herausgegebene Anthologie norwegischer Gegenwartsliteratur: »Men jeg bor her ennå« (1997; Ü: Aber ich wohne noch hier). Sie war Mitverfasserin von zwei Büchern über Sozialkunde für den Unterrichtsgebrauch in der Grundschule (1996 und 1997) und veröffentlichte ein Buch über das Leben und die Filme des norwegischen Regisseurs Arne Skouen: »Yrke: regissør« (1998; dt. »Beruf: Regisseur«, 1999). Ihre drei Romane »Før du sovner« (1998; dt. »Die Lügnerin«, 1999), »Når jeg er hos deg« (2001; dt. »Wenn ich bei dir bin«, 2002) und »Nåde« (2002; dt. »Gnade«, 2004) waren internationale Bestseller und wurden von der Kritik mit großem Lob bedacht. Für »Nåde« erhielt sie 2002 den norske leserprisen. Im Mittelpunkt ihres letzten Romans, »Et Velsignet Barn« (2005; dt. »Ein gesegnetes Kind«, 2006), stehen drei Halbschwestern, die einem Familiengeheimnis nachspüren und sich dabei an den letzten Sommer ihrer Kindheit erinnern.
Die Unbeständigkeit und Brüchigkeit menschlicher Beziehungen, die beständige Einsamkeit des Menschen, das Verhältnis von Lüge und Wahrheit – das sind die Themen, die sich durch Linn Ullmanns Romane ziehen. Dabei ist die Autorin an keinen Heldengeschichten interessiert; sie beobachtet vielmehr, wie ganz gewöhnliche Menschen mit quälenden, ungewöhnlichen Situationen umgehen, wie sie versuchen, ein verlorenes Gleichgewicht erzählend wiederherzustellen. Karin etwa, die Erzählerin aus »Før du sovner«, die mit ihrem kleinen Neffen nachts – offenbar vergeblich – auf eine Nachricht der verreisten Eltern wartet; dabei erzählt sie ihm die Geschichte seiner Familie, kreisend um die Hochzeit seiner Mutter. Zerrissen wie die (meist weiblichen) Figuren, bewegt sich auch die Erzählung selbst nicht linear, sondern springt zwischen den Zeitebenen. Dass Karin als Erzählerin – von ihr bezieht der Roman den deutschen Titel »Die Lügnerin« – dabei eine höchst fragwürdige Quelle darstellt, verleiht dem Roman eine stets schwebende Ungewissheit. Ähnlich in »Når jeg er hos deg«: Unmittelbar nachdem ein Paar, Stella und Martin, sich auf dem Dach eines Hauses umarmt hat, stürzt die Frau plötzlich in die Tiefe und stirbt. Ob es Mord, Selbstmord oder ein Unfall war, bleibt am Ende ungeklärt. Vor der ermittelnden Polizistin und dem Leser entfalten sich viele Wahrheiten. Aus lauter Einzelstimmen, etwa die der jugendlichen Tochter, von Stellas altem Freund Axel oder Dialog-Ausschnitten eines Videos von Stella und Martin, entsteht ein so vielschichtiges wie widersprüchliches und unvollständiges Bild Stellas und der verschiedenen Erzählenden selbst.
Die Uneindeutigkeit menschlicher Existenz stellt Ullmann besonders ergreifend in ihrem Roman »Nåde« dar. Als Johan Sletten erfährt, dass er nur noch wenige Monate zu leben hat, bittet er seine Frau, die Ärztin ist, ihn am Ende zu erlösen. Doch als es so weit ist, ändert er seine Meinung, ohne sie jedoch noch artikulieren zu können. Ohne moralisch zu urteilen und in der gleichen klaren und unsentimentalen, doch gleichwohl musikalischen Sprache, die bereits die ersten Romane auszeichnete, erzählt Linn Ullmann von einem Mann, der sein Leben bis in den Tod hinein unter Kontrolle haben will. Die wiederum in Rückblenden erzählte Geschichte spürt auf leise Art den Brüchen nach, die Johans Leben bereits vor der letzten großen Entscheidung ausgemacht haben, so standfest er sich selbst auch wähnen mochte.
Linn Ullmann, Tochter der norwegischen Schauspielerin Liv Ullmann und des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, lebt mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller Niels Fredrik Dahl, vier Kindern und dem Hund Brando in Oslo.
© internationales literaturfestival berlin
Men jeg bor her ennå
Aschehoug
Oslo, 1997
Før du sovner
Tiden
Oslo, 1998
Die Lügnerin
Droemer
München, 1999
Übersetzung: Gabrielle Haefs
Når jeg er hos deg
Tiden
Oslo, 2001
Wenn ich bei dir bin
Droemer/Knaur
München, 2002
Übersetzung: Ina Kronenberger
Gnade
Droemer/Knaur
München, 2004
Übersetzung: Ina Kronenberger
Ein gesegnetes Kind
Droemer
München, 2006
Übersetzung: Ina Kronenberger
Übersetzer: Gabriele Haefs, Ina Kronenberger, Hauke Lange-Fuchs