23. ilb 06. – 16.09.2023
Portrait Jorie Graham
© Hartwig Klappert

Jorie Graham

Die Lyrikerin Jorie Graham wurde 1950 in New York City geboren. Die Tochter eines Journalisten und einer Bildhauerin wuchs in Italien auf und wurde an französischen Schulen unterrichtet. Grahams erste Passion war der Film. Als Teenager jobbte sie an den Sets von Antonioni, und nach ihrem Studium der Philosophie an der Sorbonne, wo sie aufgrund ihrer Beteiligung an Studentenprotesten exmatrikuliert wurde, wechselte sie als Filmstudentin an die New York State University. Dort begann sie sich für Lyrik zu interessieren. Ihre ersten Gedichte wurden zunächst in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht. 1978 erhielt sie den Magistertitel in Kreativem Schreiben am renommierten Writers’ Workshop der University of Iowa, wo sie von 1983 bis 1999 selbst unterrichtete. Anschließend übernahm Graham die Boylston-Professur für Rhetorik in Harvard und lehrt dort bis heute als erste Frau und Nachfolgerin von Seamus Heaney.

Spätestens seit ihrem Debütband »Hybrids of Plants and of Ghosts« (1980; Ü: Hybride von Pflanzen und Geistern) zählte man Graham zur lyrischen Avantgarde, die die Pfade der konfessionellen Poesie der fünfziger und sechziger Jahre verlassen hatte und innovativ-essentielle Fragen nach dem Sein, dem Selbst und der Wahrnehmung thematisierte. Ihre leidenschaftliche Gedankenlyrik ist gekennzeichnet durch die Verwendung üppiger Metaphern, die Adaption von Mythen und durch Verweise auf europäische Kunst und Kultur. Graham seziert das Schöne auf der Suche nach Wahrheit: Insbesondere die durch das Medium der Sprache bedingten Beschränkungen der Wahrheitsvermittlung erscheinen der dreisprachig aufgewachsenen Dichterin fundamental: Jedes Gedicht sei »ein Akt des Geistes, der durch präzises Sehen, Fühlen und Denken versucht, die Sprache von ihren gegenwärtigen Lügen zu befreien, sie dazu zu befähigen, uns mit der Welt zu verbinden«. Poesie vermag dabei selbst auf Schreckliches wie den Holocaust, Krieg und Tod ein Licht zu werfen. Grahams aktuelle, zehnte Gedichtsammlung »Overlord« (2005) – der Titel verweist auf die militärische Operation, in deren Rahmen der D-Day stattfand – analysiert die Möglichkeiten des denkenden Menschen, die ihm angesichts seiner eigenen zerstörerischen Natur und einer destruktiven Geschichte bleiben.

Graham trat auch als Herausgeberin von zwei Lyrikanthologien hervor. In Kürze wird ihr Gedichband »Region of Unlikeness« (1991; Ü: Region der Unähnlichkeit) in deutscher Übersetzung erscheinen. Unter ihren zahlreichen Auszeichnungen ist der Pulitzer-Preis, den sie für »The Dream of the Unified Field« (1995; Ü: Der Traum vom vereinigten Feld) erhielt. Sie war Mitglied in mehreren Jurys und von 1997 bis 2003 Direktorin der Academy of American Poets. Die Mutter einer erwachsenen Tochter lebt in Westfrankreich und im amerikanischen Cambridge.

© internationales literaturfestival berlin

Bibliographie

Hybrids of Plants and of Ghosts
Princeton University Press
Princeton, 1980

Erosion
Princeton University Press
Princeton, 1983

The End of Beauty
Ecco
New York, 1987

Region of Unlikeness
Ecco
New York, 1991

Materialism
Ecco
Hopewell, 1993

The turning
Emory University
Atlanta, 1994

The Dream of the Unified Field
Carcanet
Manchester, 1995

Earth took of earth [Hg.]
Ecco
Hopewell, 1996

The Errancy
Ecco
Hopewell, 1997

Swarm
Ecco
New York, 2000

All things
Empyrean Press
Iowa, 2002

Never
Ecco
New York, 2002

Overlord
Ecco
New York, 2005

Übersetzer: Ingrid Fichtner, Werner Hamacher