Joe Harawira
- Neuseeland
- Zu Gast beim ilb: 2012
Der Erzähler und Experte für Tikanga (Protokolle) Joe Harawira ist Maori mit Stammesbindungen an die Ngati Maniapoto, Ngai te Rangi und Ngati Awa. Er wurde 1956 in der nordisländischen Kleinstadt Whakatane geboren. Dort ging er auch zur Schule, bis er mit 14 Jahren in das St.-Stephens-Internat geschickt wurde. Ab 1975 studierte er Lehramt am Hamilton Teachers College und Maori an der University of Waikato. Beide Studiengänge inspirierten ihn zur intensiven Auseinandersetzung mit der Tradition der mündlichen Überlieferung während seiner späteren Laufbahn als Lehrer. 24 Jahre arbeitete er in diesem Beruf, meist an Schulen, bei denen Maori die Unterrichtssprache war. Das Erzählen bekannter Geschichten aus der Welt der Maori war dabei sein didaktisches Instrument, um das im Lehrplan festgelegte Wissen zu vermitteln.
Joe Harawira ist in den vergangenen dreißig Jahren viel gereist. Er nahm an Festivals für Geschichtenerzähler in den USA, Hawaii, Kanada, Australien und Europa teil. »Storytelling« ist eine Tradition, die in seiner großen Familie gepflegt wird: »Die mündliche Überlieferung ist unsere Welt. Als Kind ging ich immer zur marae (dem Platz vor dem wharenui, wo Gäste begrüßt werden und öffentliche Debatten stattfinden), um den kaumatua (Alten) beim whaikorero (Reden und Erzählen) zuzuhören.« Harawira engagiert sich für die Sprache und die Kunst der Maori. Er selbst trägt ein tā moko (Ganzkörper- und Gesichtstätowierung) als Ausdruck seiner eigenen Geschichte und Entdeckungsreisen. Die Maori pflegen die Tradition der mündlichen Überlieferung. Der Geschichtenerzähler ist der Träger und Bewahrer der Stammesgeschichten der jeweiligen Region: »Ich glaube nicht, dass das westliche Verständnis von Mythen dem Paradigma der Wissenswege, Handlungsweisen und Ideen der Maori entspricht. Ich nenne das, was im Westen gern als Mythen bezeichnet wird, lieber Wahrheiten. Die Geschichten, die erzählt werden, sind über die mündliche Tradition von unseren Ahnen an uns weitergegeben worden. Dabei werden mehrere Kategorien unterschieden: Pūrākau (Geschichten über das Wesen der Welt und den Menschen im Denken der Maori), Pakiwaitara (unterhaltsame, humorvolle Erzählungen), Kōrero Parau (Fabeln mit einer Moral), Pakimaero (fiktive Geschichten, die Perspektiven und Orientierung bieten), Kōrero ahiahi (Geschichten zur Nacht) und Kōrero tara (Fiktion). Die orale Tradition verleiht dem Erzähler eine gewisse Authentizität, die seine Zuhörer unmittelbar empfinden. Durch die Erzählung selbst dringt die Geschichte in die Köpfe und Herzen der Menschen vor. Darin liegt die Kraft der mündlichen Überlieferung und des Geschichtenerzählens.«
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