Jean-Luc Raharimanana
- Frankreich
- Zu Gast beim ilb: 2006
Jean-Luc Raharimanana wurde 1967 in der madagassischen Hauptstadt Antananarivo geboren. Für frühe Gedichte wurde er schon 1987 mit dem Poesiepreis Jean-Joseph Rabearivelo ausgezeichnet. Zwei Jahre später schloss er ein Studium der Literaturwissenschaften an der Universität seiner Heimatstadt ab und wurde Mitglied einer Theatergruppe, für die er sein erstes Stück »Le Prophète et le Président« (1989; Ü: Der Prophet und der Präsident) vorbereitete. Die Satire über die Machtversessenheit zweier bekannter madagassischer Politiker spielt in einem Irrenhaus, in dem sich zwei Geisteskranke mit allen Mitteln zu den Herrschern über die anderen Patienten aufwerfen wollen. Das Stück gewann den Tchicaya-U’Tamsi-Preis des interafrikanischen Theaterwettbewerbs, die Aufführung wurde aber von den staatlichen Behörden Madagaskars verboten. Wenig später wurde Raharimananas Novelle »Le lépreux« (Ü: Der Leprakranke) ausgezeichnet, die 1992 einer Anthologie preisgekrönter Kurzgeschichten ihren Namen geben sollte. Daraufhin ging der Autor mit einem Stipendium des französischen Auslandsrundfunks nach Paris, wo er an der Sorbonne und am Institut National des langues et civilisations orientales studierte. Anschließend arbeitete er als Journalist und Französischlehrer. Raharimananas Erzählungen in »Lucarne« (1996; dt. »Haut der Nacht«, 1997) stehen inhaltlich und stilistisch in einem spannungsreichen Verhältnis. Mit lyrischer, sinnlicher und von oralen Erzähltraditionen beeinflusster Sprache beschreibt der Autor nicht nur die Schönheit der Natur, sondern vor allem die Not und die Verkommenheit in den Elendsvierteln. Der Autor selbst nennt diesen für ihn charakteristischen Duktus »Notzucht der Sanftheit«. Für den folgenden Erzählband »Rêves sous le linceul« (1998; Ü: Träume unter dem Leichentuch) wurde Raharimanana mit dem Grand Prix Littéraire de Madagascar ausgezeichnet. Darin behandelt er Themen wie den ruandischen Völkermord oder den blutig niedergeschlagenen madagassischen Aufstand von 1947. Mit eben dieser Episode der Inselgeschichte und weiteren, selten behandelten historischen Fakten beschäftigt sich Raharimanana auch in seinem ersten Roman »Nour, 1947« (2001). Als im Jahr 2002 Raharimananas Vater, Geschichtsprofessor an der Universität von Antananarivo, nach einer Radiosendung über präkoloniale Konflikte auf der Insel verhaftet und gefoltert wurde, gab der Schriftsteller seinen Lehrberuf auf. Er widmete sich nun ganz der Verteidigung seines Vaters und erzeugte z.B. mit Eingaben an den französischen Präsidenten Chirac erfolgreich öffentlichen Druck. In seiner letzten Erzählung »L’Arbre anthropophage« (2004; Ü: Der menschenfressende Baum) zeichnet er ein ungeschöntes Porträt der Inselgeschichte und klagt gleichzeitig die Diktatur, die Korruption und alle Formen der Unterdrückung an. In dem formal heterogenen Text mischen sich Legenden und alter Aberglaube mit der politischen Situation der Gegenwart bis hin zu dem Volksaufstand nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2001 und der Verhaftung des Vaters. Raharimanana, dessen Werke ins Deutsche, Englische, Italienische und Spanische übersetzt wurden, lebt in Paris.
© internationales literaturfestival berlin
Le lépreux [Anthologie]
Hatier
Paris, 1992
Nour, 1947
Le Serpent à plumes
Paris, 2003
Haut der Nacht
Horlemann
Unkel/Rhein, Bad Honnef, 2004
[Ü: Sigrid Köppen]
Rêves sous le linceul
Le Serpent à plumes
Paris, 2004
L’Arbre anthropophage
Gallimard
Paris, 2004