23. ilb 06. – 16.09.2023

Gennadij Ajgi

Der Lyriker Gennadij Ajgi wurde 1934 als Gennadij Nikolajewitsch Lisin in Schaimursino in der heutigen Republik Tschuwaschien geboren. Er gehörte der ethnischen Minderheit der Tschuwaschen an, einer Volksgruppe, die entfernt mit den Hunnen verwandt ist. Sein angenommener tschuwaschischer Name bedeutet soviel wie »der dort«, »der selbige«. Seine ersten Gedichte in den fünfziger Jahren erschienen in tschuwaschischer Sprache. Der Gedichtband, mit dem Gennadij Ajgi 1957 sein Studium am berühmten Gorkij-Literaturinstitut in Moskau abschließen wollte, wurde abgelehnt. Durch den Dichterfreund Boris Pasternak angeregt, schrieb er seit 1960 ausschließlich auf Russisch – ein Versuch, die Ausgrenzung sprachlich zu überwinden. Doch schon 1964 erhielt er ein Publikationsverbot, das rund 25 Jahre gelten sollte. Trotz der Isolation war Gennadij Ajgi, den Roman Jakobson als den größten lebenden russischen Dichter bezeichnet hat, in Deutschland und Frankreich schon bald ein Begriff. 1971 wurde mit er dem Band »Beginn der Lichtung« in Deutschland zum vielbeachteten Lyriker. Er übersetzte Dante und Lorca, Majakowski und Walt Whitman in seine Muttersprache und war Herausgeber einer Anthologie tschuwaschischer Lyrik. Seine Gedichte erschienen in 23 Ländern, wurden in 44 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem Lyrikpreis der Académie Française (1972), dem Petrarca-Preis (1993) und dem Boris-Pasternak-Preis (2000).

Ajgis Dichtung speist sich aus tschuwaschischer Volksüberlieferung und wurzelt in einem tiefempfundenen orthodoxen Glauben. Zugleich lassen sich eine Vielzahl von literarischen Vorbildern in seinem Werk ausmachen. Hierzu gehören neben den französischen Symbolisten wie Baudelaire und Rimbaud die russischen Futuristen um Majakowski. Charakteristisches Kompositionsprinzip Ajgis ist die durch Aufbrechen klassischer dichterischer Formen möglich gewordene extreme Verkürzung und Verdichtung der Sprache: Es gehe ihm nicht um die Beschreibung der Welt, sondern um die »abstrahierte Verabsolutierung von Welterscheinungen durch den Dichter. … Meine Arbeiten sind keine Symbole, keine Metaphern, keine Allegorien. Meine Arbeit ist Erwachen durch ein schrilles Licht, wo eine menschliche Spitze – das Wort – zum Dunstkreis wird, wo sich der Mensch mit der Natur und dem Universum vereinigt.«
Gennadij Ajgi starb 2006 in Moskau.

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