Atiq Rahimi
- Afghanistan
- Zu Gast beim ilb: 2009
Atiq Rahimi wurde 1962 in Kabul geboren. Im Jahr seiner Einschulung am französischen Lycée Esteqlal wurde die Monarchie in Afghanistan gestürzt. Sein Vater, Gouverneur des Distrikts Panshir-Tal, wurde verhaftet und verschwand für vier Jahre spurlos. Einem zweiten Staatsstreich 1978 folgte die sowjetische Invasion. Rahimi studierte Literatur und entzog sich 1984 der Einberufung zum Militär durch die Flucht nach Pakistan. Er beantragte politisches Asyl in Frankreich, studierte zunächst in Rouen und promovierte schließlich an der Pariser Sorbonne im Fach Audiovisuelle Kommunikation.
Neben der Arbeit an Dokumentarfilmen verfasste Rahimi 1996 – inzwischen hatten die Taliban die Macht übernommen – seinen ersten Roman, »Chākestar o Chāk« (dt. »Erde und Asche«, 2001). Er erschien vier Jahr später auf Französisch und avancierte nach den Anschlägen vom 11. September zum Bestseller. Der Autor verbindet Einflüsse moderner westlicher Literatur, insbesondere Schnitttechnik und Erzählökonomie, mit der bilderreichen Tradition östlichen Erzählens. Der Roman zeigt einen Mann, dessen Dorf von sowjetischen Truppen zerstört worden ist. Keiner hat das Massaker überlebt − außer ihm und seinem Enkel, der dabei das Gehör verloren hat. Auf dem Weg zur abgelegenen Arbeitsstelle seines Sohnes versucht der Mann, sich in ständiger Selbstansprache das Geschehene und seine Lage begreiflich zu machen und sich darüber klar zu werden, wie er seinem Sohn gegenübertreten soll. Der Horror des Krieges erscheint umso eindrücklicher, als ihn Rahimi fast distanziert und mit poetischer Lakonie evoziert. Statt Adjektiven und Pathos wird eine hohe Symboldichte wirksam. Die Verfilmung des Werks unter seiner Regie wurde auf internationalen Filmfestivals ausgezeichnet, u. a. in Cannes, Neu-Delhi und Sansibar.
Der Ausweglosigkeit des Krieges stehen bei Rahimi stets Oasen der Geborgenheit gegenüber, Keimzellen eines Widerstands aus der Humanität. In »Hesārchāne-ye chāb wa echtenāg« (2002; dt. »Der Krieg und die Liebe«, 2003) beispielsweise wird ein Mann außerhalb der Sperrstunde von Soldaten aufgegriffen und schwer verletzt. Er wird von einer Frau gerettet, die ihren Mann in einer ähnlichen Situation verloren hat, doch die Erfahrung der Gewalt und die Nähe des Todes begleiten ihn weiter, auch nachdem er sich nach Pakistan gerettet hat.
Seinen neuesten Roman, »Syngué sabour« (2008; dt. »Stein der Geduld«, 2009), verfasste Rahimi erstmals in französischer Sprache. Im Mittelpunkt steht eine Frau, die sich aufopferungsvoll um ihren Mann kümmert, der nach einem Genickschuss gelähmt ist. Ohne zu wissen, ob er sie hören kann, spricht sie immer freier von ihren Gefühlen angesichts der ehelichen, sozialen und religiösen Unterdrückung. Der Roman wurde mit dem renommierten Prix Goncourt ausgezeichnet.
Rahimi besuchte sein Heimatland erstmals wieder im Jahr 2002 und lebt inzwischen teilweise dort. Er engagiert sich mit vielfältigen kulturpolitischen Aktivitäten für den Wiederaufbau der afghanischen Gesellschaft. U. a. rief er ein Schriftstellerzentrum ins Leben und entwickelte die erste afghanische TV-Soap. Die Gründung eines Verlags ist in Vorbereitung.
© internationales literaturfestival berlin
Erde und Asche
Claassen
München, 2001
[Ü: Susanne Baghestani]
Der Krieg und die Liebe
Claassen
München, 2003
[Ü : Susanne Baghestani]
Le Retour imaginaire
P.O.L.
Paris, 2005
Syngué Sabour.
Pierre de patience
P.O.L.
Paris, 2008
Stein der Geduld
Ullstein Hardcover Verlag
Berlin, 2009
[Ü: Lis Künzli]