23. ilb 06. – 16.09.2023

Antonio Tabucchi

Antonio Tabucchi wurde 1943 in Pisa geboren und wuchs im norditalienischen Vecchiano auf. Er studierte Literaturwissenschaft in Pisa und Paris und schloß mit einer Dissertation über den Surrealismus in Portugal ab. Als Professor für portugiesische Sprache und Literatur lehrte er zunächst in Genua, dann in Siena. 1970 heiratete er die Portugiesin Maria José de Lancastre. Mit ihr zusammen betreute er die italienische Werkausgabe Fernando Pessoas (1888-1935). Die Entdeckung dieses portugiesischen Schriftstellers im Alter von 19 Jahren regte Tabucchi der eigenen Aussage nach zum literarischen Schreiben an. Seit 1975 publiziert er Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Essays und Übersetzungen aus dem Portugiesischen.

1983 reiste Tabucchi im Auftrag der Fondazione Gulbenkian (Lissabon) und der Universität Genua nach Lateinamerika und Indien, um Archivstudien für das Projekt »Bibliotheken europäischer Gründung in außereuropäischen Ländern« zu betreiben. 1985 bis 1987 war er Leiter des italienischen Kulturinstitutes in Lissabon. Er erhielt zahlreiche Preise, darunter den Premio Campiello 1994, den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur 1997 und den Premio Salento 2003.

Tabucchis erster Roman, »Piazza d’Italia«, erschien 1975; in ihm wird die Geschichte einer Anarchistenfamilie in der Toscana über drei Generationen verfolgt. »Die Politik gehört genauso zum Leben wie die Liebe, der Tod, die Gefühle.« Diese Einstellung des Autors schlägt sich in seiner gesamten Prosa nieder, die politische Aussagen gleichwohl niemals thetisch formuliert. Dies gilt auch für seinen bisher erfolgreichsten Roman, »Sostiene Pereira« (dt. »Erklärt Pereira«), der 1995 mit Marcello Mastroianni verfilmt wurde. Angesichts des Erscheinungstermins, Januar 1994, interpretierte die italienische Öffentlichkeit die fiktive Geschichte eines portugiesischen Kulturjournalisten, der sich 1938 vom Mitläufer zum Rebellen der faschistischen Salazar-Diktatur wandelt, als deutliche Stellungnahme zur bevorstehenden Wahl. Erinnerung und Spurensuche zählen zu den Grundmotiven von Tabucchis Werk. Auf der Suche nach Identität treten die Protagonisten in einen Dialog mit Traumgestalten, Doppelgängern, manchmal auch mit literarischen Figuren oder gar mit ihren Schöpfern. So etwa in »Requiem« von 1991: eine Hommage an Lissabon und eine Liebeserklärung an die portugiesische Sprache, der sich der Autor hier bedient, um seine »Halluzination«, die fiktive Begegnung mit dem großen Vorbild Pessoa und seinen Figuren, zu beschreiben.

Der investigative Aspekt verbindet sich in Tabucchis Prosa des öfteren mit Elementen des Kriminalromans. Dies gilt auch für seinen Roman, »La testa perduta di Damasceno Monteiro« (dt. »Der verschwundene Kopf des Demasceno Monteiro«) von 1997, der gewissermaßen das »Umkehrspiel« zum Erfolgsroman von 1994 darstellt. Entdeckte Pereira 1938 in der diktatorischen Ordnung eine Lücke, um seinen Protest zu lancieren, so erblickt der junge Journalist Firmino hinter Portugals demokratischer Ordnung die diktatorischen Machtstrukturen einer Geld-Mafia. Nach seiner „Autobiografie altrui“ (Ü: Autobiografie von anderen) erschien die Essaysammlung „L’Oca al passo“ (2006) mit politischen Betrachtungen zu (Anti-)Terrorismus, Neofaschismus, Rassismus, Revisionismus und den totalitären Tendenzen Italiens. Antonio Tabucchi verstarb am 25. März 2012 im Alter von 68 Jahren in Lissabon.

© internationales literaturfestival berlin

Bibliographie

Il teatro portoghese del dopoguerra: trent’anni di censura
Abete
Roma, 1976

Il piccolo naviglio
Mondadori
Mailand, 1978

Der kleine Gatsby
ComMedia & Arte
Stuttgart, 1986
Übersetzung: Dagmar Türck-Wagner

I volatili del Beato Angelico
Sellerio
Palermo, 1987

Kleine Mißverständnisse ohne Bedeutung
Hanser
München, 1988
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Der Rand des Horizonts
Hanser
München, 1988
Übersetzung: Karin Fleischanderl

I dialoghi mancati
Feltrinelli
Milano, 1988

Un baule pieno di gente: scritti su Fernando Pessoa
Feltrinelli
Mailand, 1990

Indisches Nachtstück und Ein Briefwechsel
Hanser
München, 1991
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Herr Pirandello wird am Telefon verlangt: ein versäumter Dialog
Friedenauer Presse
Berlin, 1991
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Wer war Fernando Pessoa?
Hanser
München, 1992
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Lissabonner Requiem. Eine Halluzination
Hanser
München, 1994
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Die Frau von Porto Pim
Wagenbach
Berlin, 1995
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Erklärt Pereira
Hanser
München, 1995
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Der schwarze Engel
Hanser
München, 1996
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Der verschwundene Kopf des Damasceno Monteiro
Hanser
München, 1997
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Marconi, se ben mi ricordo
Rai-ERI
Rom, 1997

La gastrite di Platone
Sellerio
Palermo, 1998

Piazza d’Italia
Wagenbach
Berlin, 1998
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Träume von Träumen
Hanser
München, 1998
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Die letzten drei Tage des Fernando Pessoa
Hanser
München, 1998

Die Roma und die Renaissance
Lettre International 43
Berlin, 1998

Ein Universum ist nur eine Silbe
Lettre International 50
Berlin, 2000

Das Umkehrspiel
Hanser
München, 2000
Übersetzung: Dagmar Türck-Wagner, Karin Fleischanderl

Forbidden Games
Lettre International 53
Berlin, 2001

Die Geschichte der Unruhe
Lettre International 55
Berlin, 2001

Es wird immer später
Hanser
München, 2002
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Zichorienkaffee
Lettre International 63
Berlin, 2003

Autobiografie altrui: poetiche a posteriori
Feltrinelli
Milano, 2003

Tristano stirbt
Hanser
München, 2005
Übersetzung: Karin Fleischanderl

Das Vermächtnis der Farben
Lettre International 68
Berlin, 2005

Racconti
Feltrinelli
Mailand, 2005

L’oca al passo [mit Simone Verde]
Feltrinelli
Milano, 2006

Tote bei Tisch
Lettre International 72
Berlin, 2006

Die Manege erwacht
Lettre International 73
Berlin, 2006

Übersetzer: Karin Fleischanderl, Adrian La Salvia, Dagmar Türck-Wagner