Antoine Raybaud
- Frankreich
- Zu Gast beim ilb: 2005
Antoine Raybaud wurde 1934 im südfranzösischen Marseille geboren. Er studierte in Paris, Tübingen und Harvard. Nach einer Tätigkeit als Dozent in Aix-en-Provence lehrte er als Professor in Genf. Raybaud unternahm mehrere Auslandsreisen in den Maghreb, nach Ägypten, Syrien, Südafrika, Polen, Rumänien und Spanien, zu den Antillen und zur Insel Réunion. 15 Jahre lang beteiligte er sich an Aktionen in den Stadtvierteln der Fremdarbeiter in und um Marseille.
Erst spät trat Raybaud mit Veröffentlichungen hervor. »Ich gehöre zu der entmutigten und unschlüssigen Generation, die an dem Krieg in Algerien teilgenommen hat, und ich war mir dabei vollkommen bewusst, dass das ›französische Modell‹ in vielerlei Hinsicht nicht funktionieren würde«, charakterisierte sich der Autor. Sein akademischer Essay »Fabrique d’Illumination« (1989; Ü: Fabrik der Erleuchtungen) stellt den französischen Klassiker Rimbaud als einen »Sprachingenieur« vor und untersucht dessen Konstruktionen und Montagen, mit denen er eine radikale Modernität bewies, der sich Raybaud selbst verpflichtet fühlt. 1992 veröffentlichte Raybaud seine erste und bislang einzige Gedichtsammlung »Murs« (Ü: Mauern). Seine zweite große literaturwissenschaftliche Arbeit ist »Le besoin littéraire« (2000; Ü: Das literarische Bedürfnis), eine Sammlung von scharfsinnigen Essays über Werke, die überwiegend aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stammen. Raybaud forschte insbesondere über die französischsprachige Literatur des Maghreb.
Seit seinem Studienaufenthalt in Tübingen hatte Raybaud auch eine besonders enge Verbindung zu Deutschland, die sich immer wieder in seinem Werk ausdrückt. Er übersetzte das Tagebuch von Helen Hessel, deren Leben die Vorlage für Truffauts Film »Jules et Jim« bildete, und übertrug auch die Gedichte von Ulrich von Hassell, einem Vertreter des »anderen Deutschland«, ins Französische. 2003 erschien sein erster Roman: »Retour du Paraclet« (Ü: Die Rückkehr des Paraclet) erzählt in kunstvoller, unverwechselbarer Sprache von den Reflexionen, Träumen, Erinnerungen und Visionen einer einsamen Frau, die sich in ein Dachgeschoss geflüchtet hat. Sie wird von den großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts – dem Konzentrationslager in Auschwitz, dem Bombardement Dresdens, dem Algerienkrieg, dem Palästinakonflikt – beinahe überwältigt. Dazwischen schieben sich aber auch die Tröstungen der Kultur, z.B. Bruchstücke von Gedichten und Musikstücken oder glückliche Erinnerungen an Momente familiärer Geborgenheit. Mit musikalischem Aufbau und langen, sorgfältig komponierten Sätzen schafft Raybaud einen ganz eigenen erzählerischen Ton. Der Roman ist als erster Teil einer Folge angelegt, die den Titel »Froissements du temps« (Ü: Die Zerrung der Zeit) trägt. Der zweite Teil »Le Gambit du Fou« (Ü: Das Gambit des Narren) ist unvollendet.
Raybaud veröffentlichte in den Literaturzeitungen »Po&sie« und »Dédale«, mit denen ihn eine kontinuierliche, wenngleich phasenhafte Mitarbeit verbindet. Er betätigte sich als Herausgeber mehrerer Anthologien, als Übersetzer und war Direktor des Centre Saint-John Perse in Aix-en-Provence. Raybaud lebte in Genf und Paris. Er starb 2012.
© internationales literaturfestival berlin
Fabrique d´illumination
Seuil
Paris, 1989
Journal d´Helen
A. Dimanche
Marseille, 1991
Murs
Noël Blandin
Paris, 1992
Ulrich von Hassel: Journal d´un conjuré
Belin
Paris, 1996
Le besoin littéraire
Éditions du Rocher
Monaco, 2000
Retour du Paraclet
Éditions du Rocher
Monaco, 2003
Übersetzer: Barbara Heber-Schärer, Claudia Kalscheuer