Das 21. internationale literaturfestival berlin widmet indigener Literatur ein mehrteiliges Special. Die Journalistinnen Pia Masurczak und Anna Groos sprachen vorab mit der ilb-Programmleiterin Simone Schröder über die Hintergründe.
Frau Schröder, ist die Beschäftigung mit indigener Literatur eine eher neue, aktuelle Bewegung oder hat es einen anderen Grund, wieso gerade im diesjährigen Programm des Festivals ein besonderer Fokus auf indigene Stimmen gelegt wird?
Das Programm unseres Literaturfestival setzt sich aus internationalen Neuentdeckungen und bekannten Namen zusammen. Wir stellen Literatur aller Genres vor: von Gedichtbänden, über Essays, Graphic Novels bis zu Romanen. Wir versuchen dabei das ganze Spektrum der literarischen Gegenwart abzubilden.
Dass es in der Literaturwelt ein neues Interesse an indigener Literatur gibt, kann man sagen, auch wenn es indigene Literatur schon seit vielen Jahren gibt; die Präsenz im literarischen Mainstream ist aber neu. Das spiegelt sich im Programm der Verlage und in den Preisen, die vergeben werden. 2021 etwa wurden im Bereich Literatur gleich zwei indigene Autorinnen mit Pulitzerpreisen ausgezeichnet: Louise Erdrich in der Kategorie Prosa und Natalie Diaz für ihre Lyrik. Beide werden beim Festival live zugeschaltet. Die Preise zeigen eine Stimmung oder Zeitgeist an. Es erscheinen gerade viele neue Romane von Autorinnen und Autoren, die sich als „Natives“ oder „Indians“ verstehen und auch Sachbücher, die indigenes Wissen im Horizont der Klimakrise neu entdecken.
Vielleicht ist es hilfreich, sich die Definition der UN in Erinnerung zu rufen. Danach sind Bevölkerungsgruppen indigen, die eine eigene ethnisch-kulturelle Identität haben, bestimmte Traditionen teilen und die sich als Nachkommen von Bewohnern eines räumlichen Gebiets verstehen, auf dem sie schon gelebt haben, bevor dieser Raum von Fremden erobert und kolonisiert wurde. Besonders interessant ist heute auch, dass sie zudem eine enge Bindung an ihren Lebensraum haben, der sich etwa in nicht anthropozentrischen Naturkonzepten spiegelt. Davon können wir lernen, da der Raubbau an der Natur so weit vorangeschritten ist.
Um aber noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen: Die Idee zu der Reihe »Indigenous Voices« entstand 2019. Damals war der US-amerikanische Autor Tommy Orange zu Gast beim ilb. Er hat seinen Debütroman »There There« vorgestellt, der auch hier ein großer Erfolg war. Ich fand spannend, dass er darin auf eine Weise vom Alltag von Natives schreibt, wie ich es vorher noch nicht gelesen hatte. Er beschreibt, wie verschiedene Menschen unterwegs sind zu einem Pow-Wow in Kalifornien und die damit verbundenen Rituale, aber auch wie junge Natives in amerikanischen Großstädten leben.
Da entstand die Idee, eine Reihe zu entwickeln. Ich habe diesen Vorschlag dann unseren Partnern vom Exzellenzcluster Temporal Communities der Freien Universität Berlin gemacht, und es stellte sich heraus, dass dort auch zu indigenen Wissensformationen geforscht wird. So haben wir dann zusammen das Programm geplant.
Geht es um das Sichtbarmachen indigener Autoren und Autorinnen und deren Perspektive auf die Welt?
In einem großen Festivalprogramm wie unserem drohen immer auch Themen unterzugehen. Wir organisieren rund 200 Veranstaltungen. Eine eigene Schwerpunktreihe erlaubt es da, ein Thema besonders zu akzentuieren. Neben bekannteren ‚Indigenous Voices‘ wie Louise Erdrich oder Tommy Orange wollten wir aber auch hierzulande vollkommen unbekannte Autorinnen wie den auf zapotekisch schreibenden mexikanischen Autor Pergentino José oder die chilenische Aktivistin und Mapuche-Lyrikerin Daniela Catrileo vorstellen und, ja, auch sichtbarmachen. Beide wurden zuvor noch nicht ins Deutsche übersetzt.
Gerade in der Lyrik gibt es fantastische Stimmen zu entdecken, die, dadurch, dass sie nicht in den eher kommerziellen Zusammenhängen des Buchmarkts funktionieren, sonst unsichtbar zu bleiben drohen. Ein staatlich subventioniertes Festival hat da auch eine Verantwortung, diese hochkarätige Literatur zu präsentieren. Es geht nicht darum, ein Massenpublikum für jedes einzelne Gedicht zu finden. Wie soll das auch möglich sein? Aber einen Raum zu schaffen, in dem auch diese Gedichte vorkommen können.
Debatten wie Black Lives Matter oder auch die Flüchtlingsbewegung haben in den vergangenen Jahren die Tür geöffnet für einen offeneren Umgang mit Rassismus, Diversität und Identität. Doch wie steht es um die Erfahrungen und Lebenswelten indigener Menschen? Spielt das Thema in Deutschland überhaupt eine Rolle oder ist es ausschließlich in den USA und Kanada relevant?
So sichtbar wie die Black Lives Matter Bewegung sind die Anliegen der First Nations und Tribes aus meiner Sicht hierzulande noch nicht. Und wenn Ihre Frage auch darauf abzielt, ob es auch hier in Deutschland indigene Völker gibt, dann fielen mir nur die Sorben ein. Die haben allerdings offiziell nicht den gleichen Status wie etwa die Samen in Nordeuropa. Eine eigene literarische Tradition haben die Sorben auch. Da wäre jetzt als erstes Kito Lorenc zu nennen – ein fantastischer Lyriker.
Für unser Programm wollten wir dieses Jahr aber einen Fokus auf die amerikanischen indigenen Literaturen legen. In den USA und gerade auch Kanada ist die Frage nach den Landrechten und der erzwungenen Umerziehung ein Riesenthema. Auf brutale Weise wurden dort Kinder aus ihren Familien gerissen und in Internaten christlich umerzogen. Teilweise so brutal, dass Kinder dabei starben, wie man inzwischen weiß.
Nun ist ein Roman oder Gedicht aber ja etwas anderes als eine journalistische Reportage. Literatur entsteht langsamer und wird in der Regel nicht zu einem bestimmten Thema geschrieben. Es gibt zwar aktivistische Literatur und es gibt sicher auch das Anliegen, die Lebenswelt von Natives zu vermitteln, aber es gibt wie bei großer Literatur immer auch universelle Themen, die uns alle verbinden. Die Frage nach unserem Platz in der Welt, Beziehungen und Begehren, Gewalterfahrungen und wie wir mit körperlichen und seelischen Versehrungen umgehen. Das macht die Werke universell zugänglich.
Migrantische Literatur erfährt im deutschsprachigen Raum eine zunehmende Beachtung, eine Diskussion um indigene Literatur findet jedoch kaum statt. Oder kann man hier gar keine so klare Trennlinie ziehen zwischen den Stimmen einzelner marginalisierter Gruppen?
Ich denke, dass man unbedingt unterscheiden sollte. Nicht alle marginalisierten Gruppen sind gleich. Es liegen sehr unterschiedliche Konstellationen vor. Ob jemand von seiner Flucht und Vertreibung aus Syrien oder Afghanistan erzählt oder davon, wie es ist, das eigene Land geraubt zu bekommen, auf dem die Vorfahren seit Jahrhunderten gelebt haben, ist doch sehr verschieden. Und nicht alle Individuen der marginalisierten Gruppen sind gleich.
Hinemoana Baker – eine Maori Lyrikerin aus Berlin, die bei unserer Indigenous Poetry Night am 17.09.2021 lesen wird, hat kürzlich in einem Interview gesagt, sie freue sich, dass wir diese Reihe beim ilb machen, weil sie dazu beitrage, Narrative komplexer zu gestalten und Stereotype zu unterlaufen. Sie hat gesagt: »The more real Indigenous people you meet, the more different identities and backgrounds you encounter, the more difficult it becomes to see us just as some two-dimensional war dance or a romantic exotic maiden. Anything that helps to dismantle those stereotypes is valuable.« – Alles was hilft, zweidimensionale Abziehbilder von Indigenen zu dekonstruieren, ist schon ein Schritt nach vorne.
Eine der Autorinnen der Veranstaltungsreihe ist Louise Erdrich, Angehörige der Turtle Mountain Band of Chippewa Indians. In ihrem Roman »Der Nachtwächter«, der mit dem Pulitzer-Preis 2021 ausgezeichnet wurde, erzählt sie die Geschichte ihres Großvaters, der gegen die Enteignung der amerikanischen Ureinwohner*innen protestierte. Ist die Literatur indigener Autorinnen und Autoren, aufgrund der Geschichte von Vertreibung und Kolonialisierung, aber gleichzeitig auch der langen Tradition des Verschweigens und Verdrängens dieser Geschehnisse in der Gesellschaft, per se stärker politisch geprägt als andere Literatur? Sind die Stimmen lauter, gerade aufgrund dieser langen Zeit der Vernachlässigung?
Ja, ich denke man kann sagen, dass der Wunsch, sich auch politisch zu artikulieren in vielen Werken mitschwingt. Louise Erdrichs Roman ist ein gutes Beispiel dafür, wie es gelingen kann, eine politische Agenda zu verfolgen und Aufklärungsarbeit zu leisten und zugleich ein komplexes Stück Erzählkunst zu schaffen.
Sie hat für den Roman sehr viel recherchiert. Es ist ein historischer Roman, der in den 1950er Jahren angesiedelt ist, als die amerikanische Regierung anfing, ihre sogenannte Terminationspolitik einzuführen. Reservate sollten aufgelöst, Stämme enteignet und umerzogen werden. Erdrich erzählt davon, wie die Turtle Mountain Chippewa im Stammesrat Widerstand dagegen organisierten.
Der Roman ist aber nicht überfrachtet von diesen Themen, sondern erzählt auch vom gewöhnlichen Weiterleben zu dieser Zeit, der Arbeit in einer Fabrik oder eben als Nachtwächter, wie ihr Vater es war und er lebt von seinen lebendigen Figuren, Erdrichs Sprache und ihrem Witz.
Welche Bedeutung hat indigene Literatur für die öffentliche Diskussion über verschiedene kulturelle Identitäten und die Aufarbeitung kolonialer Machtgefüge?
Literatur kann verschiedene Identitäten und die damit verbundenen Sichtweisen auf die Welt nachvollziehbar machen. Sie erlaubt es uns als Lesenden, sich hineinzuversetzen in andere. Das ist die besondere Kraft der Literatur. Dieses Moment der Empathie.
Literatur kann auch eine Art Trauerarbeit sein für die Versehrungen, die weiße Kolonisatoren indigenen Gemeinschaften zugefügt haben. Zu erzählen kann auch Empowerment bedeuten, also die Selbstbemächtigung über die eigene Geschichte. Reservate etwa sind in den Romanen und Gedichten, die beim Festival in den nächsten Tagen vorgestellt werden, nicht nur Orte der Armut und des Leidens, sondern auch der Kultur und des Zusammenlebens, der ersten Liebe, zwischen queeren Cree zum Beispiel wie beim kanadischen Lyriker Billy-Ray Belcourt. Die Idee von Gemeinschaft ist sehr ausgeprägt.