Pauline Melville
- Großbritannien
- Zu Gast beim ilb: 2002
Ob Pauline Melville mit Herman Melville, dem Autor von „Moby Dick“, verwandt ist? Wäre sie es, sie würde wohl kein Wort darüber verlieren, denn ihre eigene Lebensgeschichte bleibt ein sorgfältig gehütetes Geheimnis. So sind von ihrer Biographie lediglich Bruchstücke bekannt: Ihre Mutter war Engländerin, ihr Vater stammt aus Guyana. In dieser ehemaligen britischen Kolonie an der Atlantikküste Südamerikas ist sie auch geboren – irgendwann in den 40er Jahren. In den 80er Jahren dann spielte sie Nebenrollen im englischen Fernsehen oder im Film – so z.B. an der Seite von Armin Müller-Stahl in „Utz“, einer Verfilmung des Romans von Bruce Chatwin, mit dem die Autorin nicht nur das Fernweh teilt. 1990 machte sie mit „Shape-Shifter“, einer ersten Sammlung von Erzählungen, auf ihr schriftstellerisches Talent aufmerksam und erhielt dafür den „Commonwealth Writers Prize“ für das beste Debüt. Ihre Geschichten spielen in Großbritannien, der Karibik oder in Guayana; ihre Protagonisten befinden sich auf der Suche nach einer Heimat, nach Identität und einer Vergangenheit, die die Gegenwart zu leben hilft. Eine fundamentale Unruhe prägt die Erzählungen, mit denen Melville Zustände des Postkolonialen illustriert und reflektiert. Zwar mag es keine Verwandtschaft mit Herman Melville geben, dafür existiert aber eine Beziehung zu dem englischen Romancier Evelyn Waugh, der in dem Tagebuch seiner Guayana-Reise von einer Begegnung mit einer gewissen Amy Melville berichtet. Diese Entdeckung diente Pauline Melville als Anlass für ihren ersten Roman, der 1997 erschien: „The Ventriloquist’s Tale“ gewann nicht nur den „Whitbread First Novel Award“, sondern wurde unter anderem ins Französische, Holländische und Katalanische übersetzt. In Deutschland erschien das Buch unter dem Titel „Der Bauchredner“ (1998). In diesem Roman, der im Guyana der 80er Jahre angesiedelt ist, begibt sich – gleichsam als Alter ego der Autorin – die Literaturforscherin Rosa Mendelsohn auf die Suche nach Menschen, die Waugh 1933 während seines dortigen Aufenthalts kennen gelernt hat. Bei ihren Recherchen trifft sie auf den Indianer Chofy und erfährt den Zusammenprall zweier Kulturen am eigenen Leib. Kunstvoll kreuzt Melville ihre Geschichten zu einem Liebes- und Abenteuerroman. Melvilles Fabulierkunst und eine Faszination für Details zeichnet auch ihre zweite Sammlung von Kurzgeschichten aus. „The Migration of Ghosts“ (1998) ist unter dem Titel „Mrs. da Silvas Karneval (2002) ebenfalls bereits in Deutschland erschienen und veranschaulicht den Lesern den Reichtum an neuen Erfahrungen, die aus der Begegnung Europas mit ferneren Teilen der Welt erwachsen sind. Eine schwerkranke Frau wählt Dantes „Göttliche Komödie“ als Begleitung auf ihrem Leidensweg. Eine alte Frau erfüllt sich einen Jugendtraum und ist für einen Abend Mittelpunkt einer Flamenco-Darbietung. Die titelgebende Mrs. da Silva lernt auf dem karibischen Karneval in den Straßen von Notting Hill einen jamaikanischen Postboten kennen. Hemingway meets Márquez: Pauline Melville schreibt Geschichten, in denen geliebt und gehasst wird. Leben entsteht und vergeht – und das in einer Welt, die mehr und mehr zusammenrückt. Pauline Melville lebt in London.
Dirk Naguschewski
© internationales literaturfestival berlin
Shape-Shifter
Woman´s Press
London, 1990
Der Bauchredner
Kindler
München, 1998
Übersetzung: Leonie von Reppert-Bismarck
The Migration of Ghosts
Bloomsbury
London, 1998
Mrs. da Silvas Karneval
Droemer Knaur
München, 2002
Übersetzung: Heide Lichtblau
Übersetzer: Heide Lichtblau, Leonie von Reppert-Bismarck