Lutz Seiler
- Deutschland
- Zu Gast beim ilb: 2006
Lutz Seiler wurde 1963 im thüringischen Gera geboren. Nach einer Lehre als Baufacharbeiter arbeitete er als Zimmermann und Maurer; später studierte er in Halle und Berlin Germanistik. Von 1994-99 war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »moosbrand«. Während sein erster Gedichtband »berührt/geführt« (1995) noch weitgehend unbemerkt blieb, gelang ihm mit den Nachfolgebänden »pech & blende« (2000) sowie »vierzig kilometer nacht« (2003) die Anerkennung als einer der wichtigsten zeitgenössischen deutschen Dichter. In der Folge wurden ihm zahlreiche Literaturpreise verliehen, darunter der Kranichsteiner Literaturpreis, der Anna-Seghers-Preis, der Ernst-Meister-Preis, der Bremer Literaturpreis, der Preis der SWR-Bestenliste und der Ingeborg-Bachmann-Preis für einen Auszug aus dem Prosatext »Turksib«.
Für den Lyriker, Herausgeber und Essayisten sind Herkunft und Schreib-Ort von besonderer Bedeutung und bilden eine Art poetisches Reservoir. Die Kindheit und »Heimaten«, wie ein Essay von 2001 betitelt ist, sind Gegenstände seiner Reflexion. Dabei steht eine archaische Bildwelt – Begriffe wie Vieh, Stein, Kohle, Tisch, Gesicht werden gehäuft verwendet – konkreten Erinnerungstopoi gegenüber, die auf seine thüringische Herkunftslandschaft verweisen. Der Titel »pech & blende« ruft ein solches Konkretum auf: Pechblende nannten die Bergleute das uranhaltige und radioaktive Erz, dessen Abbau auch das Heimatdorf Seilers zum Opfer fiel. Gagarin, sowjetischer Vorzeigeheld im All, wird gleichsam Mitglied der Familie im Vers »mutter, vater, gagarin & heike oder«. Unvermittelt tauchen Bruchstücke der Vergangenheit in Seilers Gedichten auf und dienen als Leitfossilien in der Abraumhalde der Geschichte. So ist der Leser zeitlich orientiert und mittels rhythmischer, reimloser Verse in den Echoräumen von Erinnerung und Historie unterwegs.
Über »deutsche alleenstraßen« führen die Gedichte des Bandes »vierzig kilometer nacht« (2003) aus der vom Uranbergbau zerstörten Heimatlandschaft hinaus in die historische Schichtung Brandenburger sowie mitteldeutscher Gegenden und wenden sich Themen der Gegenwart zu. 2004 erschien die Essaysammlung »Sonntags dachte ich an Gott«, in der Seiler eine Bestimmung seines poetologischen Standorts vornimmt. Darin berichtet er u.a. von den »magischen Plätzen«, den Initiationen der eigenen Kindheit und Jugend, aber auch von seinen Lektüreerfahrungen. »Im Falle des Verlusts zu senden an« ist ein Essay über Peter Huchels Notizbuch, das der Dichter als Metaphernspeicher verwandte, indem er den Rohstoff seiner Arbeit zu Begriffs- und Bildfeldern ordnete. Lutz Seiler, der im Peter-Huchel-Haus in Wilhelmshorst, einer Gedenkstätte bei Berlin, lebt und dessen Literaturprogramm seit 1997 leitet, beschäftigte sich eingehend mit dem Werk jenes Poeten, der zu DDR-Zeiten »Sinn und Form« herausgab. Seilers zuletzt erschienene Erzählung »Die Anrufung« (2005) wurde für ihre »poetische Intensität« gelobt. Seine Gedichte erfuhren auch im Ausland Anerkennung. Sie wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt, darunter ins Englische, Französische und Italienische.
© internationales literaturfestival berlin
berührt/geführt
Oberbaum
Chemnitz, 1995
pech & blende
Suhrkamp
Frankfurt/Main, 2000
vierzig kilometer nacht
Suhrkamp
Frankfurt/Main, 2003
Sonntags dachte ich an Gott
Suhrkamp
Frankfurt/Main, 2004
Die Anrufung
Keicher
Warmbronn, 2005