Gerhard Rühm
- Deutschland, Österreich
- Zu Gast beim ilb: 2006
Gerhard Rühm wurde 1930 in Wien geboren. Er studierte Klavier und Komposition an der Wiener Musikakademie und beschäftigte sich insbesondere mit der Zwölftonmusik. Angeregt von deren Kompositionsprinzipien widmete sich Rühm auch der bildenden Kunst und der Literatur. In H.C. Artmann, später Friedrich Achleitner, Konrad Bayer und Oswald Wiener, fand er Gleichgesinnte, mit denen er Mitte der fünfziger Jahre die »Wiener Gruppe« gründete. Sie steht in der Literaturgeschichte für die Abkehr von herkömmlichen literarischen Konventionen, insbesondere vom Vorrang der beschreibenden Funktion von Texten, und stellte sowohl mit experimenteller Dichtung als auch mit theoretischen Schriften den Materialcharakter der Sprache heraus.
Rühm zählt zu den Klassikern der modernen deutschsprachigen Literatur. In seinem umfangreichen und heterogenen Werk an den Schnittstellen von Literatur, bildender Kunst und Musik finden sich zahlreiche neue Genres wie »visuelle Musik«, »auditive Poesie« und »gestische Zeichnung«. Seine Werke, die Einflüsse des Expressionismus und Dadaismus aufnehmen, fertigt Rühm oft unter Rückgriff auf vorgefundenes Material aus dem Alltag an, das er nach einem bestimmten Kalkül modifiziert. Spielerisch und ohne sich allzu starr den selbst auferlegten Regeln zu unterwerfen, werden in der äußersten Konzentration der Mittel erstaunliche, vielschichtige Sinn-Effekte an der kalkulierten Grenze zu Sinnlosigkeit und Schweigen frei. Ein Jahr nach seiner ersten Ausstellung bildnerischer Arbeiten veröffentlichte Rühm mit Achleitner und Artmann die Dialektgedichte »hosn rosn baa« (1959; Ü: hosen rosen gebeine) und trug dazu bei, Heimatdichtung jenseits von Sentimentalität und Trivialität wiederzubeleben. Die Schwierigkeit, seine Texte in Österreich zu publizieren, bewog ihn 1964, sich in Berlin niederzulassen. In Deutschland erschien zunächst die Anthologie »Die Wiener Gruppe« (1967), dann in schneller Folge die Gedichtbände »fenster« (1968), »gesammelte gedichte und visuelle texte« (1970) und die Prosasammlung »die frösche und andere texte« (1971). Wiederholt beschäftigte sich Rühm mit verschiedenen Aufführungsformen von Texten und leistete wichtige Beiträge zum »Neuen Hörspiel«, das anstelle von inszenierten Dialogen und Handlungen zentral den im Tonstudio produzierten Klang einsetzt. Den Text »ophelia und die wörter« (1972) erprobte Rühm in den Medien Film und Hörspiel. Für »wald. ein deutsches requiem« (1983) wurde er mit dem Hörspielpreis der Kriegsblinden geehrt. Bis heute erhielt er zahlreiche weitere Preise, darunter den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, den Preis der Stadt Wien, den Großen Österreichischen Staatspreis und den Grillparzer-Preis.
Von 1978 bis 1993 lehrte Rühm als Professor für Freies Zeichnen an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Sein bildnerisches Werk wurde auf zahlreichen Ausstellungen präsentiert. Ein Jahr nach seiner letzten Veröffentlichung »Was verschweigt die schwarze Witwe? Schrift-, Sprech- und Bildanagramme« (2004) begann die Herausgabe seiner auf zehn Bände angelegten Gesammelten Werke. Der Künstler lebt seit 1975 in Köln.
© internationales literaturfestival berlin
hosn rosn baa
[mit F. Achleitner und H.C. Artmann]
Frick
Wien, 1968
fenster
Rowohlt
Reinbek bei Hamburg, 1968
die frösche und andere texte
Rowohlt
Reinbek bei Hamburg, 1972
ophelia und die wörter
Luchterhand
Neuwied, 1972
wald. ein deutsches requiem [Tonband]
WDR
Köln, 1983
Die Wiener Gruppe [Hg.]
Rowohlt
Reinbek bei Hamburg, 1985
Visuelle Poesie
Haymon
Innsbruck, 1996
Masoch: eine visuelle Rezitation
Droschl
Graz, 2003
Was verschweigt die schwarze Witwe?
Droschl
Graz, 2004
Gesammelte Werke, Band 1 und 2
Parthas
Berlin, 2005, 2006